Die Hunde sind wieder los – oder zumindest als Sidekicks zu sehen. Abermals versucht sich Disney an der teuflischen Cruella de Vil. Statt kleinen Dalmatinern das Fell abziehen zu wollen, nimmt sie es diesmal mit menschlichen GegnerInnen auf. Ob sich der Disney+-Vip-Zugang oderKinobesuch für die Live-Action-Adaption Cruella lohnt, erfahrt ihr hier.
von Susanne Gottlieb
28. Mai 2021: Wie wurde Cruella de Vil zu Cruella de Vil? Eine Frage, die man sich vielleicht nicht unbedingt je gestellt hat, die Disney aber mit seinem neuesten Live-Action-Abenteuer gerne beantworten möchte. Die Originalgeschichte 101 Dalmatiner geht nicht mehr, die hatte 1996 schon Glenn Close mit ihrer einprägsamen Darstellung und als Schreckgespenst der Millenial Generation für sich gepachtet. Daher Origin Story. Aber macht nichts. Als geistiges Erbe von Der Teufel trägt Prada und mit viel Punk präsentiert sich Cruella als eine der besseren Live-Action-Adaptionen der letzten zehn Jahre.
Ab 27. Mai startet Cruella (wo das möglich ist) im Kino und am 28. Mai gegen 21,99 Euro Aufpreis auf Disney+. Wir verraten euch, warum es sich auf jeden Fall auszahlt, den Film zu schauen.
Die junge Estella (als Erwachsene Emma Stone) hatte schon immer Probleme sich anzupassen. Hyperintelligent, und mit einer boshaften Seite ausgestattet, deren Manifestation sie “Cruella” nennt, ging es dem Mädchen nie darum, sich einzufügen oder Konventionen zu folgen. Im strengen England der 60er ein Fauxpas der zum Rausschmiss aus der Schule führt. Mit ihrer verständnisvollen Mutter (Emily Beecham) will Cruella in London neu durchstarten. Immerhin träumt das Mädchen davon, einmal eine Fashion-Designerin zu werden.
Doch bevor man sich in der Hauptstadt niederlässt, will die Estellas Mutter eine mysteriöse alte Freundin besuchen, von der sie sich Geld für einen Neustart erhofft. Diese Unbekannte stellt sich als die renommierte, exzentrische Haute Fashion Legende Baroness von Hellmann (Emma Thompson) heraus. Doch statt Geld zu erhalten stirbt Estellas Mutter, als die Dalmatiner der Baroness sie anspringen und sie über die Klippe stürzt.
Als Waise trifft sie in London die beiden Rumtreiber Jasper (Joel Fry) und Horace (Paul Walter Hauser). Die drei wachsen zu einem brillanten Gaunertrio heran, doch Estella will mehr vom Leben. Sie fängt einen Job in einem Modehaus der Baroness an, wo dieser ihr Designertalent durch Zufall auffällt. Estella beginnt beruflich einen kometenhaften Aufstieg. Aber bald wird klar, dass hier mehr an der Geschichte zwischen Estella, ihrer Mutter und der Baroness dran ist. Um Gerechtigkeit zu bekommen, muss Estella ihre brave Seite hinter sich lassen, und Cruella zur gnadenlosen Rächerin erheben.
Das größte Problem, das Cruella überwinden musste, liegt auf der Hand. Wie macht man aus einem hundemordenden Bösewicht die Protagonistin? Der Film optiert für die vorhersehbare Variante, indem er sich in den Clinch mit dem Quellenmaterial, 101 Dalamatiner, begibt. Soll heißen, in sich geschlossen macht der Film durchaus Spaß. Aber als Prequel funktioniert er nur bedingt.
Das liegt unter anderem daran, dass die Autoren Estella/Cruella so etwas wie einen Moralkompass geben mussten, damit sie überhaupt als Heldin der Geschichte funktioniert. Die Original Cruella ist keine Sympathieträgerin. Sie ist eine Diva, die das Publikum ironisch liebt, weil ihre campy Outfits, ihr gelebter Unernst und ihre Unangepasstheit an die gesellschaftlichen Normen sie zu einem interessanten Charakter machen. Sie zu einer feministischen Ikone mit Statements “I am woman, hear me roar” zu erheben ist nicht nur etwas fragwürdig. Es funktioniert nicht als Vorgeschichte. Mit all dem, was in diesem Film vor sich geht, scheint es nämlich etwas bizarr, dass Hunde töten der Punkt ist, wo viele Figuren dann die rote Linie ziehen.
Wenn man diese Probleme vor seinem inneren Auge abschaltet, und nur den Film an sich genießt, macht das Ganze gleich viel mehr Spaß. Angesiedelt in den 60ern und 70ern in London, macht er Cruella zu einem Punk, der die starren Konventionen seines Umfeld herausfordert. Die Baroness, ein eiskaltes, festgefahrenes Produkt ihrer Zeit, angehäuft mit altem Geld und unflexibeln Weltanschauungen wird von einer jungen Frau herausgefordert, die ihre Wertvorstellungen ablehnt. Die mächtig sein will, aber auch versteht eine zwischenmenschliche Wärme auszustrahlen.
Und so erklingen schon mal New Wave Vorreiter wie The Clash, aber auch andere Musiklegenden und gesellschaftliche Revolutionäre wie Nancy Sinatra, The Beatles, oder die Zombies im Soundtrack. Ebenfalls nicht zu verachten ist das Production Design und die Kostüme des Films. Irgendwo angesiedelt zwischen einem brutaleren Der Teufel trägt Prada und Girl, Interrupted, ist es somit die Geschichte einer bis auf die Zähne stylisch und provokant gekleideten jungen Frau, die wie selbstverständlich mit einer netten (Estella) und einer bösartigen (Cruella) Persönlichkeit lebt, und den amerikanischen Traum von armer Diebin und Putzfrau zu Leiterin eines Modeimperiums durchläuft.
Dass das so gut funktioniert, liegt vor allem am süffisant brillanten Spiel von Stone und von Thompson. Thompson ist eine Queen als abgebrühte Baroness, fast jeder ihrer pointierten verbalen Attacken gegen ihr Umfeld sind wie kleine Messer, die sich in das Fleisch bohren und gleichzeitig auch noch so zitierbar sind. Neben dem offensichtlichen Divenkult, bekommen auch genderfluide Modemacher ihren Auftritt. Die Dramatik ist überspitzt und wendet sich gegen normative Erzählstrukturen. Wäre der Film auf diesen Gleisen verblieben, wäre er perfekt geworden.
Gleichzeitig versucht er aber auch die klassische Disney-Formel zu erfüllen, von totem Elternteil und niedlichen Tieren als überdurchschnittlich intelligenten Sidekicks. In diesem Fall sind es ihre treu ergebenen Hunde. Dass ihr ganzes Mantra mal Welpen töten sein wird, erscheint daher umso weiter hergeholt und ohne konkrete Motivation. Die Rache gegen die Baroness ist eine persönliche Angelegenheit. Ein Dalmatiner-Mantel dagegen nur – eine Laune? Während es durchaus positiv ist, dass Kinder es mal campy haben dürfen, nehmen diese Einschränkungen dem Ganzen auch viel Momentum. Cruella darf nämlich im Endeffekt nicht nur die Normen brechende vielschichtige Antiheldin sein. Ihre Motivation muss einer gerechten Sache unterworfen werden, ihre Persönlichkeit in sympathischere Bahnen gelenkt werden.
Cruella macht Spaß und gehört eindeutig zu Disneys besten Live-Action-Adaptionen. Dennoch muss man sich gedanklich von 101 Dalmatiner entfernen, wenn der Film in sich geschlossen Sinn machen soll. Ist das erledigt, hat das fertige Werk durchaus campy Kultpotenzial.
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Fotos: © 2021 Walt Disney
Susanne Gottlieb schreibt als Filmjournalistin für die Helden der Freizeit, Kleine Zeitung, NZZ, Standard, TV Media, Filmbulletin, Cineuropa und viele mehr. Sie arbeitet im Filmarchiv Austria, berichtet von diversen Filmfestivals und hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert.