Der weiße Tiger basiert auf dem Debütroman und Bestseller des indischen Schriftstellers und Journalisten Aravind Adiga. Er zeigt den Aufstieg eines Mannes aus einer armen Kaste in Indien. Doch der gerade auf Netflix gestartete Film ist keine motivierende Erfolgsstory, sondern zeigt schonungslos die Leichen, über die man auf diesem Weg gehen muss.
von Susanne Gottlieb
22. Jänner 2021: Die Zukunft gehört China und Indien, sagt die Hauptfigur Balram (Adarsh Gourav) mehrmals im Laufe des Films. Und wirklich, mit Ökonomien, die im östlichen Erdteil in den Himmel schießen, sieht sich der Businessman anno 2010 dazu motiviert, dem damaligen chinesischen Staatschef einen Brief zu schreiben, wie er in seinem eigenen Land groß geworden ist. Autor Adiga setzt sich in seinem Debütroman mit gesellschaftskritischen Themen wie der Globalisierung und ihren Folgen, individuellen Rechten und Freiheit auseinander. Neben den universell gültigen Themen wirft er aber auch einen scharfen Blick auf das Kastensystem und die darausfolgende Unterdrückung in seinem Heimatland.
Der amerikanische Regisseur Ramin Bahrani hat die Geschichte nun filmisch umgesetzt. Irgendwo zwischem düsteren Drama und galgenhaften Humor angesiedelt, ist der heute auf Netflix erscheinende Film auf jeden Fall ein heißer Streaming-Tipp. Weitere findest du übrigens hier in unserer Übersicht der besten Netflix-Filme, der besten Netflix-Serien und unserer Vorschau auf die Netflix-Highlights 2021.
Balram Halwai (Gourav) wächst in einem armen Landstrich im Dorf Laxmangargh auf. Er kommt aus der „Dunkelheit“, wie er sagt, da er aus einer armen Kaste stammt. Seine Meister, zu deren Diener ihn die Gesellschaft getrimmt hat, stehen im Licht. Schon als Kind stellt sich heraus, dass der junge Balram ein Talent für schulische Aktivitäten hat. Von einem wohlsituierten wird er daraufhin der weiße Tiger genannt. Ein seltenes Tier, dass nur alle paar Jahrzehnte geboren wird. Balram ist somit der seltene Fall eines armen Kastenmitglieds, das es zu etwas bringen könnte.
Balrams Großmutter und die Familie sehen das etwas anders. Sie drängen Balram in ein für die arme Gesellschaft typisches Schicksal. Früh raus aus der Schule und in das Familienbusiness, später dann idealerweise schnell heiraten und die Familie erweitern. Doch Balram sieht seine Chance gekommen, mehr aus seinem Leben zu machen, als er Ashok (Rajkummar Rao) den Sohn des Dorfbesitzers zum ersten Mal sieht. Für diesen liberaleren, im Westen studierten, Mann will er als Fahrer arbeiten. Mit Glück gelingt ihm das auch. Er wird für ihn und seine amerikanisch-indische Frau Pinky Madam (Priyanka Chopra) zum unersetzlichen Begleiter.
Doch in einem alles verändernden Moment wenden sich auch diese Meister gegen ihn und fordern von ihm, ohne Gegenleistung ein Opfer, das sie selbst nicht zu bringen wagen. Balram ist desillusioniert. Und beginnt an seinem Ausbruch aus dem System der Abhängigkeit zu arbeiten. Ein Weg, der ihn später in das Business mächtiger Bangladore und zum Verfassen seiner Email an Jinbao führen wird.
Hähne in einem Käfig fliehen nicht, obwohl sie wissen, dass sie als nächstes geschlachtet werden. Sie warten ruhig bis sie an der Reihe sind. So beschreibt der Protagonist die Situation der armen Menschen in Indien. Der Aufstieg in einem Land, dass sich als die großartigste Demokratie bezeichnet mit der großen Sozialistin als Anführerin, hat wenig für seine ärmsten zu bieten. Die reiche Klasse stellt deren absolute Loyalität sicher, indem sie bei Verstößen mit Konsequenzen für die Familie droht. Aber, wie Balmar sagt, „die Wahlen haben mir gezeigt, wie wichtig es ist, nicht ein armer Mann in einer freien Demokratie zu sein“.
Als „halb-fertiger“ Mann ist er einer von vielen, aber im Gegensatz zu den anderen, will er sich nicht mit diesem Schicksal zufrieden geben. Und so lernt nicht nur er, sondern auch der Zuschauer im Laufe des Films, viel über die Korruption in den oberen Kasten, in der Regierung, und dass es wie so oft darum geht, hier nicht Steuern zahlen zu müssen. „Ein reicher Mann wurde mit Möglichkeiten, die er verschwenden kann, geboren“, er selber habe diese Optionen nicht. Der Film versteht es, trotz eines teilweise zu überlagerndem Voice Over, diese Erkenntnisse eindrucksvoll in Szene zu setzen. Er mag zwar immer wieder verstörende Bilder haben, aber die wahre Grausamkeit kommt aus der Metaebene. Wenn Ashoks Familie Balram etwa dazu zuckersüß überredet, für eine Tat die Schuld auf sich zu nehmen. Und im nächsten Moment ihn wieder durch den Raum kickt.
Die Erkenntnis, sich hier ohne Gegenleistung und Hinterfragen zum Sklaven gemacht zu haben, ist ein Schüsselerlebnis für die Figur, und auch als Zuschauer spürt man den Schmerz. Doch kurz darauf setzt Balram zum Gegenschlag an und beginnt sich zu wehren. Es wird sein, von durchaus unterhaltsamen Szenen gespickter, dunkler Aufstieg aus einer Unmündigkeit. Mit den schnellen Schnitten, dem zwielichtigen Business und den oft flashigen Farben, fühlt man sich hier oft, als hätte Regisseur Bahrani die Geisteskinder von Steven Soderbergh und Guy Ritchie vereint, ohne aber eine identitätslose Kopie abzuliefern. Er nimmt sich Zeit für seine Figur, zeigt die Hässlichkeit, in die sie gedrückt wird, und schreckt auch bei der Gewalt nicht zurück.
„Du hast den Schlüssel seit Jahren gesucht, aber die Tür stand immer offen“, erklärt ihm Pinky Madam in einer Fantasiesequenz. Doch Balram weiß, dass er vieles opfern wird müssen, um diese Schwelle zu übertreten.
Der weiße Tiger ist ein dynamisch tragischer Film, mit einer großartigen Perfomance des Newcomers Adarsh Gourav, den man nicht verpassen sollte.
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Bilder: © 2020 Netflix
Susanne Gottlieb schreibt als Filmjournalistin für die Helden der Freizeit, Kleine Zeitung, NZZ, Standard, TV Media, Filmbulletin, Cineuropa und viele mehr. Sie arbeitet im Filmarchiv Austria, berichtet von diversen Filmfestivals und hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert.