Saša Stanišić trifft mit seinem Werk Herkunft genau den Nerv der deutschsprachigen Leser. Nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich handelt es sich um ein außergewöhnliches Buch. Dafür wurde der Autor auch verdient mit dem Deutschen Buchpreis 2019 ausgezeichnet.
Eine Rezension von Peter Marius Huemer. Der freie Schriftsteller stellt euch in “Peters Buchtipp” jeden Monat ein außergewöhnliches Werk vor.
12. Jänner 2021: Autor und Protagonist gleichen sich in diesem biografischen Roman und die – trotz aller unverhinderbaren autofiktionalen Unschärfe – greifbare Authentizität übt einen unheimlichen Sog aus. Saša ist Emigrant aus einem Land, das es nicht mehr gibt. Es gibt nur den Weg vorwärts in die deutsche Lebenswelt und die deutsche Sprache – eine Tür, auf der „ziehen“ steht, gegen die man aber drückt.
Der Roman beginnt am frühestmöglichen Punkt einer Biografie: der Geburt. Schon hier wird klar, dass es nicht naturalistische Lebenserzählungen sind, die dieses Buch ausmachen sollen, sondern Interpretationen, die zwischen Wissen aus erster und aus zweiter Hand schwanken. Und auch das Verhältnis des Autors zur Sprache offenbart sich schon auf diesen ersten Seiten. Die deutsche Sprache ist Zufluchtsort, weil der Staat, zu dem die Muttersprache gehört hatte, nicht mehr existiert, und Barriere, weil sie sich jedem Ausdruck, jedem Versuch von flüssiger Kommunikation entgegenstemmt.
Dieses ambivalente Verhältnis zur Sprache führt zu einem faszinierenden Spiel mit Korrektheit und Konventionen. So konstruiert der Autor aus Sprichwörtern neue Bedeutungen, indem er sie in anderem Kontext oder missverständlich einsetzt, und findet neue (oder in neuen Rahmen gesetzte) Metaphern, die so treffend sind, dass man sich fragt, wie man nicht schon viel früher draufgekommen ist. Es sind die Ergebnisse des Drückens gegen eine Sprache, die sich sperrt und der jede Form von Bedeutung mit Kreativität abgerungen werden muss. Damit erkundet man die eigene Welt neu, indem man sie durch eine leicht abgewandelte Form des eigenen Sprechens ausgedrückt sieht.
Herkunft ist zwar an der Oberfläche Emigrationsliteratur, aber zu keinem Zeitpunkt konventionell. Die örtliche Emigration steht im Hintergrund. Weil die titelgebende Herkunft, der Ort in seiner damaligen Form, nicht mehr existiert, also keine Rückkehr mehr möglich ist, fehlt dem Buch der sentimentale Blick zurück. Dieser wird durch einen verschwommenen Blick ersetzt, der diesen verschwundenen Ort zu rekonstruieren versucht. Ohne die vertraute Vergangenheit wird der fremde Ort der Gegenwart umso schwieriger zu entschlüsseln. Die einzige Verbindung zur Herkunft stellen die Erinnerungen der dementen Großmutter dar. So wird die Herkunft zu etwas Mythologischem, etwas Unbestimmbarem und nicht Determiniertem.
Herkunft ist ein Roman, der nicht an das Jetzt der Erzählung gebunden ist, sondern an den Prozess der Dinge. Eine aufregende Neubetrachtung von Sprache und ihren identitätsstiftenden Eigenschaften. Sprachherkunft, das Erarbeiten und Erstreiten einer sprachlichen Heimat im Gegensatz zur geografischen Heimat, in die man hineingeworfen wird. Ein bemerkenswertes Buch, das auf jeder Seite neue Perspektiven öffnet.
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Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.