Echtzeit-Strategiespiele waren in den 90ern die Könige des PC-Gamings. Games wie Command and Conquer, Warcraft, Age of Empires und Starcraft sind bis heute unerreichte Klassiker. In den letzten 15 Jahren verkam das Genre (mit Ausnahme von Starcraft 2) mehr und mehr zur obskuren Randerscheinung. Das könnte sich jetzt mit Iron Harvest 1920 von King Art Games ändern.
von Peter Huemer
2. September 2020: Geschichte neu. In der Parallelrealität von Iron Harvest endet der erste Weltkrieg erst 1920 – mit einem Waffenstillstand zwischen Rusviet und dem Sächsischen Imperium. Das zwischen den beiden Reichen liegende Polania muss sich mit einer Rusvietischen Besatzung abfinden. Aber in Europa kehrt keine Ruhe ein. Eine Geheimorganisation unterwandert alle Fraktionen, versucht den Krieg neu zu entfachen und schreckt dabei auch vor Königsmord nicht zurück.
Soweit die Ausgangslage im neuen Strategiekracher der deutschen Entwickler von King Art, der seit 1. September erhältlich ist. Volltreffer oder Rohrkrepierer? Hier unser Iron Harvest Test-Urteil:
Hier liest du, welche Games sonst noch so im September auf uns zukommen.
Die Welt von Iron Harvest ist unserer zum Beginn des 20. Jahrhunderts nicht unähnlich. Der entscheidende Unterschied ist, dass Nikola Tesla in Europa geblieben ist statt in die USA zu gehen und riesige benzinbetriebene Mechs erfunden hat. Und, wie Menschen nunmal sind, wird diese Erfindung sofort für den Krieg missbraucht, anstatt für industrielle oder humanitäre Zwecke. Das Ergebnis ist ein fruchtbarer Krieg, der nun endlich zu Ende gehen scheint.
Die Story von Iron Harvest 1920 um die böse Geheimorganisation und die Helden aller Fraktionen, die sich gegen sie stellen, ist emotional und clever konstruiert. Dass wir die Handlung aus der Sicht der jungen Widerstandskämpferin Anna beginnen, die von so gut wie nichts etwas weiß, ist ein toller Kniff, um alles mysteriös und interessant zu gestalten. Zeitsprünge und wechselnde Perspektiven runden die gelungene Story ab. Nicht immer schafft es das Spiel, Klischees und Kitsch zu umschiffen, und die Charaktere sind allesamt nach altbekannten Mustern gestrickt. Aber das Gesamtbild ist gut und liegt weit über dem Durchschnitt, was man normalerweise von Strategiespielen erwarten kann.
Das Gameplay von Iron Harvest 1920 dreht sich voll und ganz um die effektive und taktische Steuerung einer relativ überschaubaren Anzahl von Einheiten auf dem Schlachtfeld. In der Kampagne sorgt das für eindrucksvolle Schlachten. Von langgezogenen Gefechten entlang befestigter Positionen bis hin zu kleinen Scharmützeln ist alles dabei. Zu Beginn jedes Matches werden Eisen-Minen und Ölpumpen erobert, die einem die Ressourcen liefern, um eine Basis zu bauen und Truppen zu trainieren. Während am Anfang Infanterie-Gefechte dominieren, verlieren Fußsoldaten schnell ihre Bedeutung, sobald die Turmhohen-Mechs zu Felde geführt werden. Das dauert aber eine Weile und kostet viel Öl. Die kleineren Mechs können immer noch von Granaten oder Standgeschützen ausgeschaltet werden.
Dies sorgt für einen natürlichen Spielverlauf, in dem jede Einheit ihre Rolle hat. Zumindest in Multiplayer-Partien funktioniert das wunderbar, obwohl die eingeschränkte Anzahl von Gebäuden und die manchmal etwas träge Steuerung möglicherweise auf lange Sicht problematisch sein könnten. Um ein echtes E-Sports Game (wie das lange unerreichte Starcraft 2) zu werden, wie die Entwickler es scheinbar anstreben, braucht es vielleicht noch etwas mehr Tiefe. Schon vor dem Erscheinen wurde ein Turnier mit gutem Preisgeld ausgetragen, bei dem viele verschiedene Strategien gezeigt wurden, während derer aber auch so manches Spiel von wichtigen Mechs entschieden wurde, die sich ums Verrecken nicht richtig drehen wollten oder von grundlos verzögerten Schüssen. Das Grundgerüst ist aber schon sehr stimmig und hat das Potential, auf hohem Niveau gespielt zu werden.
Die Gestaltung und Inszenierung der Kampagne ist auf jeden Fall über jeden Zweifel erhaben. Die einzelnen Missionen sind abwechslungsreich gestaltet und lassen richtiges Schlachten-Feeling aufkommen. Es fühlt sich toll an, eine gegnerische Position zu stürmen oder die eigenen gegen eine Übermacht zu verteidigen. Auch jene Missionen, in denen wir nur einen Helden und eine Handvoll Einheiten durch ein Level steuern, sind herausfordernd, aber stets fair und spannend.
Es gibt nur zwei Kritikpunkte, die den Spielspaß stellenweise ausbremsen. In Missionen, in denen eine feindliche Basis erobert werden muss, gibt es stets eine einzige optimale Strategie: Zwei bis drei Ressourcen-Punkte erobern und befestigen, die eigene Basis befestigen und warten, bis man genug Ressourcen hat, um fünf bis sechs der stärksten Mechs der jeweiligen Fraktion zu rekrutieren – dann über alle Feinde drüberfahren wie ein Güterzug. Das erfordert vor allem Geduld, ist aber der sicherste Weg zum Sieg. Natürlich gibt es auch andere Strategien, die sind aber alle riskant und nicht optimal. Da wäre es interessant gewesen, hin und wieder ein Zeit-Element in die Missionen einzubauen, um einen zum Finden kreativer Lösungen zu zwingen.
Wo auf der einen Seite Zeitdruck fehlt, hat man bei anderen Missionen von Iron Harvest auf einmal fast zuviel davon. Zum Beispiel, wenn eine Basis oder eine bestimmte Stellung verteidigt werden muss. Da geht es sich bei der Befestigung der Verteidigung oft kaum aus, mehr als ein bis zwei Bunker zu bauen und die Einheiten passend zu positionieren. Das ist Schade, weil es gerade dort Spaß machen würde, perfekt plazierte Verteidigungsanlagen zu errichten. So geht es schlussendlich wieder nur darum, einfach so viele große Mechs wie möglich zu bauen.
Das ist aber Kritik auf hohem Niveau. Das Spiel macht so viel Spaß, reißt mit seiner Inszenierung so sehr mit, dass man einfach noch mehr darin eintauchen möchte. Umso mehr ist schade, dass diese Kleinigkeiten die Kampagne spielerisch von ihrem vollen Potential abhalten.
Iron Harvest 1920 ist vermutlich das visuell beeindruckendste Echtzeit-Strategiespiel seit langem. Texturen, Animationen und Effekte sind allesamt im Genre-Spitzenfeld. Das größte Alleinstellungsmerkmal ist aber die Zerstörungs-Physik. Wenn einer der großen Mechs mit klingendem Namen wie “Erlkönig” oder “Stiefmutter” durch Gebäude marschiert, als wären sie aus Papier, und diese realistisch in sich zusammenfallen, dann ist das einfach ein Fest für die Augen.
Iron Harvest 1920 ist ein Muss für jeden Freund von Echtzeit-Strategiespielen. Die Kampagne liefert eine gute Story und ist auch einsteigerfreundlich genug (obwohl sie später manchmal richtig schwierig wird), dass auch Strategie-Neulinge ihren Spaß haben. Komplex genug, um auch Veteranen zu befriedigen, aber nicht zu verwirrend. Ein paar kleine Verbesserungen im Missionsdesign und etwas mehr Tiefe auf hohem Level im Multiplayer hätten nicht geschadet, können aber den starken Gesamteindruck nicht trüben. Hut ab, was die Bremer Entwicklerschmiede von King Art da aus dem Boden gestampft hat.
Iron Harvest 1920 ist seit 1. September 2020 für PC (Steam), PS4 und Xbox One für 49,99€ erhältlich.
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Alle Screenshots: (c) King Art Games
Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.