Es ist Zeit ein paar Wissenschaftler zu verspeisen. In Carrion drehen wir den Spieß um und schlüpfen in die Haut des bösen Aliens. Wieviel Spaß macht das coole, neue Indie-Game? Das erfährst du in unserem blutverschmierten Review.
von Peter Huemer
27. Juli 2020: Dass ein gutes Spiel nicht unbedingt ein Triple-A Budget braucht, haben im letzten Jahrzehnt bereits tausende Indie-Games bewiesen. Auch Carrion zeigt, wie man mit minimalistischen Mitteln, etwas richtig Cooles erschaffen kann.
Wir alle wissen aus vielen Gruselfilmen wie Alien und Horrorspielen, wie es sich anfühlt, vor einem unaufhaltsamen Monster zu fliehen. Es ist Zeit, das Ganze aus einer anderen Perspektive anzugehen. Genau das erlaubt uns Carrion. Im neuen PC-Spiel auf Steam (seit 25.7. erhältlich) sind wir das Monster, und ein richtig furchterregendes noch dazu. Wir verraten euch in unserem Test, ob das so spaßig ist, wie es sich anhört.
In diesem Spiel schlüpfen wir in die (sagen wir mal) Haut eines zuerst noch relativ kleinen roten Knäuels aus Tentakeln, Augen und Mündern. Unsere Aufgabe: Einem Labor entkommen und dabei alles verschlingen, das sich uns in den Weg stellt. Dabei marodieren wir durch Labors, Militärkomplexe, Kanalisationen, natürliche Höhlen und Minen. Kaum eine Lücke ist zu klein, dass unsere monströse Masse sich nicht hindurchzwängen könnte. Je mehr Wissenschaftler oder Soldaten wir verschlingen, desto größer werden wir, desto mehr Kraft haben wir und desto mehr Kugeln können wir vertragen.
Aber der Ausbruch besteht nicht nur aus Fressen und Wachsen. Eine viel größere Herausforderung als die relativ hilflosen Menschen ist die Architektur des Labors. Türen und andere Hindernisse müssen durch den Einsatz neu mutierter Fähigkeiten überwunden werden. Das ist das Gameplay von Carrion. Nicht zu kompliziert, aber komplex genug, um nie langweilig zu werden.
Die Steuerung von Carrion geht am PC fast ausschließlich mit der Maus und auf Konsolen mit den Joysticks vonstatten. Eine Taste bewegt uns vorwärts und mit der anderen greifen wir nach Dingen oder Menschen, um sie zur Seite zu schaffen oder zu fressen. Die einzig anderen Tasten benötigen wir nur um hin und wieder Spezialfähigkeiten zu aktivieren. Klingt simpel, ist es auch, funktioniert aber so intuitiv, dass sich bald mit nur zwei Tasten richtig coole Manöver vollführen lassen.
Das Gameplay ist zwar richtig unterhaltsam und die Prämisse interessant, das alleine würde das Spiel aber kaum von der Masse an guten Indie-Games abheben, die Tag für Tag erscheinen. Es ist die Präsentation und das Design, die Carrion ausmachen. Die Art und Weise, wie ekelig und gleichzeitig faszinierend sich die Tentakel-Monstrosität durch die Korridore bewegt, wie sie wächst und wie sie Wissenschaftler und Soldaten in Stücke reißt und verschlingt, ist beinahe hypnotisch. Kaum jemals war einen neuen Speicherpunkt zu finden so befriedigend: Die Kreatur frisst sich in die Wand und verbreitet ihre eigene Biomasse, sodass ein blutrotes Gewächs aus allen Mauerrissen dringt.
Der Schwierigkeitsgrad in Carrion ist zu Beginn relativ niedrig angesetzt. Das hilft einem dabei, sich an das ungewohnte Gameplay zu gewöhnen. Schnell aber zieht das Ganze an. Wo die ersten Feinde bloß mickrige Handfeuerwaffen hatten und kaum mehr als einen Schuss abgeben konnten, bevor sie verspeist wurden, treten nach einer halben Stunde die ersten schwer bewaffneten Soldaten auf. Mit Schutzschilden, Maschinengewehren und der Reaktionszeit eines Spitzenathleten. Obwohl man sich als Monster oft unangreifbar fühlt, braucht es nicht mehr als zehn Kugeln, um uns auszuschalten. Jeder Treffer kostet Biomasse und lässt uns schrumpfen. Genau dieser Schwierigkeitsgrad motiviert dazu, jede Situation taktisch anzugehen, sich durch Lüftungsschächte heranzuschleichen und die Gegner von hinten zu überraschen.
Carrion ist ein tolles kleines Indie-Game, das einem genau das liefert, was es verspricht: Eine befriedigende Allmachtsfantasie, ohne zu gedankenlosem Morden zu verkommen. Die Rätsel sind genau schwierig genug, um nicht frustrierend zu werden, und die Gegner gefährlich genug, um die Spannung aufrecht zu erhalten. Was das Spiel abhebt, ist das tolle minimalistische Design und die intuitive Steuerung. Ein Geheimtipp, dem man auf jeden Fall eine Chance geben sollte.
In unserem Spieler-Bereich findest du Vorschauen und Reviews zu den neuesten Games.
Rock of Ages 3 Test: Kegeln im Monthy-Pyton-Style
Hype um Game-Remakes: Fluch oder Segen? 6 Beispiele
Alle Fotos (c) Phobia Game Studio
Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.