Oscarpreisträger Sam Mendes schafft mit 1917 ein eindrucksvolles Kriegsdrama, das technisch wegweisend ist. Denn mit nur einer Kameraeinstellung begleitet der Film zwei Soldaten durch das Niemandsland der Front des ersten Weltkriegs. Warum ebendort auch die Grenzen des Werks liegen, das ab 16. Jänner 2020 bei uns läuft, lest ihr in unserer Kritik.
25. Dezember 2019: Regisseur Sam Mendes kann sich schon so einige legendäre Filme zuschreiben. Sowohl American Beauty als auch James Bond 007: Skyfall gehen auf seine Kappe. Und auch das aktuelle Kriegsdrama 1917 beweist, dass Mendes großartige visuelle Effekte erschafft. In seinem neuesten Drama wagt er das Undenkbare: In einer durchgehenden Einstellung (allerdings ist es nur scheinbar ein One-Shot) folgen Zuschauer den Protagonisten durch die gesamte Handlung des Films. Dadurch lassen sich die Gräuel des ersten Weltkriegs hautnah erleben. Aber durch genau diese technische Versessenheit bleibt die Charakterisierung der Hauptcharaktere Schofield und Blake oberflächlich.
Was das neue Meisterwerk von Mendes so einzigartig macht, lest ihr im Review der Helden der Freizeit.
Vor Sonnenaufgang des nächsten Tages müssen sie dem Oberstleutnant einer anderen Einheit (Benedict Cumberbatch) eine Nachricht überbringen, von der das Überleben von 1.600 Männern abhängt. Denn die deutschen Bataillone versuchen den Briten eine hinterlistige Falle zu stellen, indem sie einen Rückzug vortäuschen.
Um ihre Mitkämpfer zu retten, müssen sich Schofield und Blake in einem Wettlauf gegen die Zeit durch das schlammige Niemandsland kämpfen. Doch damit nicht genug, denn hinter den feindlichen Linien erwarten sie allerhand Fallen und versprengte deutsche Soldaten, die nichts von ihrer Kampfwütigkeit eingebüßt haben.
Mitreißend und überwältigend präsentiert sich die Geschichte von 1917. Denn allein die Prämisse ist abenteuerlich: Gegen die Zeit kämpfend müssen zwei junge Männer nicht nur die feindliche Grenze, sondern auch das Gebiet dahinter durchqueren. Dabei würde man ihnen keine Überlebenschancen geben. Trotzdem brechen sie auf. Treibende Kraft ist Blake, dessen älterer Bruder (Richard Madden) in einem der gefährdeten Bataillone ist. Alleine sein halsbrecherischer Mut sorgt beim Zuschauer für Bewunderung.
Im Gegensatz zu Blake begibt sich Schofield nur widerwillig mit auf die Mission. Denn sie ist ihm zu riskant, er plädiert ständig für eine vorsichtige Herangehensweise. Blake hingegen will so schnell wie möglich durch das feindliche Gebiet preschen, um den bewunderten Bruder zu retten. Durch diese unterschiedlichen Philosophien der Protagonisten entsteht eine faszinierende Dynamik, die vor allem durch die filmische Entscheidung, alles in einem Durch zu drehen, weiter überhöht wird.
Oder zumindest fast ohne Schnitt. Denn im Gegensatz zu beispielsweise Victoria wurde 1917 nicht wirklich als One-Shot gedreht. Es gibt den einen oder anderen unsichtbaren Schnitt, der geschickt versteckt wurde und dem Tempo des Films keinen Abbruch tut. Diese Einschnitte sind aber so rar gesät, dass man dem Drehgenie von Roger Deakins nur die volle Bewunderung aussprechen kann. Der hat übrigens schon für seine Kameraarbeit in Blade Runner 2049 einen Oscar eingeheimst.
Dieser Nonstop-Dreh erlaubt es, die Umgebung der Hauptcharaktere Blake und Schofield so authentisch darzustellen, wie man es in der Kinogeschichte bisher nur selten gesehen hat. Besonders wenn die Kamera ihnen durch die engen, schlammigen Schützengräben folgt und die leidenden, schmutzigen Gesichter der vielen Soldaten zeigt, fühlt sich der Zuschauer, als ob er mitten im Geschehen wäre.
Dabei ist die Detailversessenheit, mit der die Kulissen für diese spezielle Form des durchgehenden Drehs gestaltet wurden, nicht weniger beeindruckend. Denn in 1917 kann man sich intensiv wie nie in die Zustände des ersten Weltkrieges hineinfühlen. Riesige Krater säumen das morastige No Man’s Land, in ihrer schlammigen Brühe schwimmen die aufgeblähten, zerfransten Leichen beider Fronten. Zerbombte französische Städte, in denen nur mehr Grundmauern stehen, werden nachts von abgefeuerten Geschossen gespenstisch ausgeleuchtet. Bis zum letzten Sandsack in den Trenches ist alles perfektionistisch ausgearbeitet.
Auch für MacKay und Chapman muss der Druck, so lange durchgehend und einheitlich zu spielen, beträchtlich gewesen sein. Trotz oder gerade wegen der zusätzlichen Anstrengung gelingt es ihnen, ihre Charaktere authentisch zu spielen. Aber Respekt gebührt vor allem den hunderten Statisten, die als Soldaten die Schlachtfelder und Gräben zum Leben erwecken.
Allerdings beraubt die eigenwillige Filmweise mit nur einer Einstellung den Charakteren ihrer Tiefe. An 1917 merkt man im Endeffekt, dass es schwierig ist, den ganzen Charakter eines Menschen innerhalb einer so kurzen Zeitspanne ohne Unterbrechung zu entwickeln. So bleiben Schofield und Blake trotz toller schauspielerischer Leistungen von MacKay und Chapman für den Zuschauer im Endeffekt Fremde.
Sam Mendes und Roger Deakins strengen sich für einen Oscar ordentlich an. 1917 ist ein starker Film, dessen künstlerische Herangehensweise an den ersten Weltkrieg allein Argument genug für einen Kinobesuch ist.
Wer allerdings auf viel Waffenaction hofft, wird enttäuscht. Vielmehr entsteht die Spannung im Kriegsdrama dank der durchgehenden Kameraführung. Denn die verwehrt dem Zuschauer, genau wie den Protagonisten, die Übersicht auf das universelle Bild des Krieges. Dafür bietet sich ein eingehender Blick in den engen, schmutzigen Kosmos der Schützengräben aus Perspektive der Soldaten.
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Bilder: © 2019 Universal Pictures and Storyteller Distribution Co., LLC.
Die Journalistin ist bei Videospiel-Tests und Wien Guides voll in ihrem Element. Seit 2021 verstärkt sie die Redaktion des KURIER.