Die Goldgrube Stephen King scheint unerschöpflich. Kein Jahr vergeht, ohne die Verfilmung eines seiner Horror-Werke. Dieses Mal ist die Fortsetzung von The Shining an der Reihe. Kann Doctor Sleeps Erwachen (so der deutsche Titel) an Stanley Kubricks Klassiker anschließen? Unser Review.
22. November 2019: Als Stephen King 2013 eine Fortsetzung zu seinem Roman The Shining verfasste, war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis Hollywood diese Chance ergreifen würde. Jetzt können wir diese Geschichte seit 21. November auf der großen Leinwand bewundern. Wie meistert Regisseur Mike Flanagan (Spuk auf Hill Haus, Oculus) die Aufgabe, Kubricks nicht sehr vorlagengetreue Adaption des ersten Teils von 1980 und sein eigenes Werk zu vereinbaren? Und lohnt sich dafür ein Kinobesuch? Wir verraten es euch in unserer Kritik.
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Der telepathisch begabte Danny (Ewan McGregor) entkam am Ende von The Shining gemeinsam mit seiner Mutter dem verfluchten Overview Hotel und seinem von den Geistern des Hotels besessenen Vater. Leider folgen ihm die Geister immer noch. Deshalb muss er lernen, sie in imaginäre Schächtelchen in seinem Kopf zu sperren. Alle Geister verwahrt, scheint er endlich in Sicherheit zu sein. Dreißig Jahre später aber ist Danny ein drogensüchtiger Alkoholiker, weil ihn seine Fähigkeiten nicht in Frieden lassen.
Als er plötzlich auf telepathischer Ebene mit anderen in Verbindung gerät, die ebenso über das “Shining” verfügen, wird er in eine Bedrohung verwickelt, die viel größer ist als der Fluch des Overview Hotels. Ein Film voller Rückgriffe auf das Original, aber mit vielen neuen und weitaus fantastischeren Elementen, wie zum Beispiel den seelensaugenden Bösewichten und gewaltig erweiterter Telepathie. Aufregend, aber nicht immer stimmig.
Gleich vorweg sei gesagt, dass dieser Film nicht unbedingt etwas für Fans des ersten Films ist. Obwohl es viele Verweise, wiederkehrende Themen und visuelle Ähnlichkeiten gibt, könnte der Ton des Filmes nicht unterschiedlicher sein. Trotz grausiger Bilder und expliziter Gewalt ist Doctor Sleeps Erwachen eher ein Mysterythriller als ein Horrorfilm. Die fantastischen Elemente von Dannys Fähigkeiten und die leicht absurde Gruppe von Bösewichten mit ihrer mythologisierten Hintergrundgeschichte machen den Film fast zum Fantasy-Abenteuer.
War in The Shining die tatsächliche Existenz der übernatürlichen Fähigkeiten von Danny zwar klar etabliert, aber doch eher vage, so sieht das ganze in Doctor Sleep ganz anders aus. Gleich von Beginn an kann Danny Geister in seinem Kopf einsperren, andere können Gedanken lesen, Bösewichte können die übernatürliche Kraft aus Kindern saugen und in Flaschen aufbewahren – hier gibt es keinen Platz für Zweideutigkeit. So besteht der Film oft minutenlang nur aus Erklärungen, wer welche Fähigkeiten hat und wie sie funktionieren. Das ist wichtig für die Geschichte, nimmt aber oft jede Spannung.
Überhaupt fehlen dem Film größere Überraschungen. Meist ist alles vorhersehbar. Die Handlung gleicht einem Abenteuerfilm, in dem die Helden die gesamten Vereinigten Staaten bereisen. Man sollte also keine Atmosphäre wie in The Shining erwarten. Regisseur Flanagan ist redlich bemüht für Stimmung zu sorgen, und das gelingt auch nicht per se schlecht. Die Handlung arbeitet aber gegen ihn.
Die Stärken des Filmes offenbaren sich, wenn man anfängt, ihn getrennt vom ersten Teil zu betrachten. Überhaupt sind die Verweise und Verbindungen zu The Shining erst im letzten Drittel angesiedelt. Über große Strecken ist die Story von Doctor Sleep eigenständig. Der Film transportiert starke Motive von Sucht und Vergangenheitsbewältigung. Auch der Einfluss von einer Generation auf die Nächste spielt eine große Rolle, eine Gegenüberstellung des guten natürlichen Kreislaufs der Dinge und des krankhaften Festhaltens an alten Strukturen. Auch deshalb ergibt es Sinn, dass Doctor Sleeps Erwachen sich nicht ähnlichen Abläufen wie The Shining bedient. Visuell findet die Fortsetzung starke Bilder und ihre eigene Identität. Bis auf zwei sehr fragwürdige CGI-Momente gibt es auch über die Effekte nichts zu meckern.
Ewan McGregor ist das Zentrum des Films. Der britische Schauspieler gibt den erwachsenen Danny mit einer interessanten Mischung aus abgehalfterten Alkoholiker und Mann der emotional nie seine Kindheit hinter sich lassen konnte. Er gibt sich oft so gutherzig naiv, dass man ihm einfach zu Hilfe springen möchte. In der OV-Version ist der amerikanische Akzent des Briten leider nicht immer ganz überzeugend – interessant, weil McGregor eigentlich schon sehr oft Amerikaner verkörpert hat. Womöglich liegt es an Dannys ohnehin etwas merkwürdigem Charakter, der sich nicht auf eine sprachliche Identität festlegen lässt. Das fällt aber nicht zu negativ ins Gewicht.
Unter den Nebendarstellern ist vor allem Bösewichtin Rose zu erwähnen. Sie ist zwar keine allzu furchteinflößende Gegenspielerin, dafür kommt ihr Charakter umso menschlicher daher. Man kann ihre Motivation verstehen und auch mit ihrem Leid mitfühlen. Auch die junge Abra überrascht mit ihrem spielerischen Selbstbewusstsein, das fast schon an Arroganz grenzt. Eine flexible Leistung, wie man sie selten von Kinderdarstellern zu sehen bekommt.
Doctor Sleep ist in allen Belangen ein handwerklich guter Film. Die Darsteller, die Regie und das Design sind allesamt solide. Die Handlung bewegt sich nahe an der Buchvorlage, was den Streifen aber hart von dem cineastischen Meisterwerk The Shining abgrenzt. Da es sich aber um eine Fortsetzung handelt, kommt man an Vergleichen nicht vorbei. Dieses Duell verliert Doctor Sleeps Erwachen. Es gibt aber vermutlich kaum einen Gruselfilm, der hier besser abschneiden würde. Ein echter Horrorfilm ist Doctor Sleeps Erwachen auch gar nicht. Wer aber Mystery liebt und Stephen Kings Geschichten der letzten fünfzehn Jahre, der ist hier ganz richtig. Hardcore-Horrorfans sollten sich vor einem Kinobesuch klar machen, was sie erwartet.
In unserem Seher-Bereich findest du Kritiken (vor allem dieses Jahr so einiges zu Stephen King) zu den neuesten Filmen.
Alle Fotos (c) Jessica Miglio
Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.