Was passierte mit James und Alyssa? Der Channel 4 und Netflix Überraschungshit The End of the F***ing World hatte ein offenes Ende. Nun hat das Team rund um Charlie Covell, Jonathan Entwistle und Lucy Tcherniak überlegt, wie es mit den beiden weiter gehen könnte und eine zweite Staffel rausgebracht. Warum die aber einfach nicht an die Brillanz von Staffel 1 anknüpfen kann, lest ihr in unserem Review.
6. November 2019: Kann man einen selbsterklärten Psychopathen und eine aggressive vorlaute Rebellin lieben? Die Miniserie The End of the F***ing World hat 2017 bewiesen, dass man es kann. Die Adaption der Graphic Novel von Autor Charles Forsman ist nämlich im Kern eigentlich eine freche schwarze Komödie. Die Figuren sind auch keine Bedrohung für die Gesellschaft, sondern Teenie-Sonderlinge, die sich auf ihrem Weg der Selbstfindung und des Erwachsenwerdens befinden. Nebenbei entwickelt sich ihr Verhältnis zueinander auch zu gegenseitiger Unterstützung und Verständnis. Etwas, das ihnen im Leben bisher verwehrt geblieben ist, meinen sie. Staffel 1 war ein Hit, eroberte zu Recht einen Platz in unserem Ranking der besten Netflix-Serien aller Zeiten – hier nachzulesen.
Mit den überschwänglichen Kritiken und den Nominierungen bei den British Academy Television Awards und den Primetime Emmy Awards war klar: Netflix und Channel 4 würden sich eine weitere Staffel nicht entgehen lassen. Doch ohne Vorlage von Forsman, dessen Comic auch mit dem Ende der ersten Staffel endet, erwies sich das Unterfangen als schwer zu meisternde Herausforderung. Ob es dennoch aufgegangen ist, lest ihr in unserer The End of the F***ing World Kritik zu Staffel 2. Achtung, enthält Spoiler!
Übrigens: Welche Netflix-Serien und -Filme noch im November starten, haben wir hier für euch im Überblick.
Relativ bald wird ein im Vorfeld gehütetes Geheimnis gelüftet: James (Alex Lawther) hat den Schusswechsel am Strand überlebt. Er und Alyssa (Jessica Barden) werden von ihrer Familie eingesammelt, des Mordes an Clive (Jonathan Aris) freigesprochen und daraufhin bewusst voneinander ferngehalten. Während James Monate in Reha verbringt, um seine Schussverletzung auszukurieren, packt Alyssas Mutter sie und ihre Brüder (die man nach der zweiten Episode übrigens nie mehr zu Gesicht bekommt) ins Auto und verschwindet zu ihrer Halbschwester.
Doch nicht nur Alyssa und James leben mit den Folgen ihrer vergangenen Spritztour. Eine neue Figur wird eingeführt. Bonnie (Naomi Ackie) ist auf mysteriöse Weise mit dem Duo verbunden und sinnt auf Rache. Sie schickt beiden eine anonyme Warnung, was Alyssa wenig beeindruckt, aber James in helle Aufregung versetzt. Er sucht seine alte Gefährtin auf, die kurz vor einer Hochzeit aus Langeweile steht, um sie zu warnen. Die Wege der drei werden sich so bald kreuzen und James und Alyssa müssen erkennen, dass das Leben mehr als nur einen beschissenen Tag in petto hat.
Als Channel 4 und Netflix ankündigten, sich die Option einer zweiten Staffel anzuschauen, rührten sich bereits unter den Fans erste Widerstände. Der in sich geschlossenen Geschichte sei nichts mehr hinzuzufügen. Die Graphic Novel von Charles Forsman war inhaltlich erschöpft. Außerdem haben andere Serien leider schon gezeigt, dass sie inhaltlich beginnen auseinander zu brechen, wenn sie versuchen über das Ausgangsmaterial hinaus weitere Geschichten zu erzählen.
Die zweite Staffel ist leider ein Paradebeispiel dafür geworden. Was nützt es, wenn das komplett gleiche Team wieder an Bord ist, wenn das Quellenmaterial einfach nicht stimmt? Der Look ist da, die schwungvolle Indie-Musik, das Engagement der Darsteller. Aber die pointierte Erzählweise Forsmans fehlt.
Serienschöpfer und Schreiber Charlie Covell hat hier seiner eigenen Kreativität freien Lauf gelassen. Und leider verfällt er nicht nur in alt hergebrachte Coming-of-Age-Muster, er scheint auch irgendwie den Faden verloren zu haben, wer die Figuren überhaupt sind.
Problematisch ist, dass Covell ein Viertel der Serie darauf verwendet, neue Figuren einzuführen oder den alten ein Update zu verschaffen. Dadurch geht das flotte Tempo des Vorgängers verloren. Ein Rhythmus, den die Serie auch später, wenn James und Alyssa sich wieder auf Reisen befinden, nicht einfangen kann.
Weil die erste Staffel inhaltlich in sich geschlossen war und sich um die Reise zu Alyssas Vater drehte, musste Covell nun einen Grund finden, warum die beiden abermals in Schwierigkeiten geraten. Ein Ereignis aus der letzten Staffel, das eigentlich schon deren Handlung maßgeblich geprägt hatte, wirft hier die sogenannte Rettungsleine.
Die Ermordung des Serienmörders Clive Koch muss nochmals als Initialzünder herhalten. Die war zwar für James und Alyssa durchaus traumatisch, aber nicht der emotionale Kern der Geschichte. Es frustriert, dass man hier noch immer einem Vorfall nachhängt, statt einen neuen interessanten Blickwinkel zu liefern.
War das Thema das letzte Mal noch der Schmerz des Erwachsenwerdens in einer Welt, die keinen Sinn macht, sind es nun Schuldgefühle und die Suche nach einem Weg weiterzuleben. Das ist zwar durchaus legitim, aber Covell handelt sich daran mit zu konventionellen Mitteln ab, statt Forsmans eigensinnige Perspektive weiterzuführen.
Die neuerliche Rundreise des Duos dauert auch nicht lange und wirkt eher wie ein Alibi, hier Elemente der Vorgängerstaffel zu wiederholen. Covell verlegt ein „Ein Ort“ Drama auf die Straße und überzuckert es mit Plot-Points, die der Zuschauer schon mal gesehen hat, ohne dass er dabei ein Ziel vor Augen hat.
In Staffel 1 war James ein vom Selbstmord der Mutter traumatisierter, emotional verschlossener Mensch und Alyssa eine von der heimischen Gleichgültigkeit frustrierte Rebellin. Covells Upgrade in dieser Staffel macht die beiden nun aus irgendeinem Grund zu einem liebeskranken Stalker und einem eiskalten Arschloch.
James Suche nach Sinn im Leben und der Hoffnung ihn in Alyssa zu finden, mag Sinn ergeben. Aber statt einer eigenen Persönlichkeit ist seine Figur nur mehr eine Reaktion auf sie. Eine konstante Bedürftigkeit und ein ewiger Versuch. vor ihr den Teppich auszurollen, damit sie zu ihm zurückkommt.
Alyssa dagegen ist als eiskalte Bitch geschrieben, die James heran lässt, ihn wegstößt, hin und her schwankt zwischen Davonlaufen und Heimkehren und eigentlich nur mehr einen Gesichtsausdruck hat. Als Zuschauer hält man nicht mehr zu ihr. Ihre schwache Charakterisierung zieht die Handlung runter.
Auch Bonnies Figur ist das etwas abgenutzte männlich konzipierte Klischee einer Frau, die sich aus Mangel an Selbstwert über einen Mann definiert hat und diesen nun rächen will. Dass Clive, der eiskalte Frauenmörder, in Rückblenden ein Zweitleben als Lebemann und spitzzüngiger Frauenheld (die er halt gelegentlich abschlachtet) erhält, rundet diese bizarre Figuren-Neudefinition ab.
Dieser Trend setzt sich auch in den kleinen Nebenfiguren fort. Alyssa und James waren jene Zielsuchende, die erkennen mussten, dass die Welt um sie herum von verrückten, miesen und gefährlichen Menschen dominiert wird. Mit dieser Umkehr seiner Protagonisten sind es auf einmal die Nebenfiguren, die halbwegs normal wirken und sich den Launen des Duos ergeben müssen.
Sicher. Covell will hier etwas darlegen, wenn Alyssa ihren traumatischen Frust an ihrem einfältigen, aber gutherzigen Ehemann ablässt. Aber er liefert im Gegenzug sehr wenige Gründe, warum der Zuschauer hier mit Alyssa fühlen sollte. Das Provokanteste, was Covell einfällt, ist ein Beinespreitzer im Bus, der Alyssa sagt, sie solle doch mal lächeln. Weil …Feminismus?
Eine Person, die keine Liebe erfahren hat, sieht Sachen, die nicht sind. So resümiert Alyssa an einem Punkt in ihrem Voice Over. Auch die Macher der Serie haben Potenzial in der Fortsetzung gesehen, das offensichtlich einfach nicht da war. The End of the F***ing World hat ein paar amüsante Momente und ist nach wie vor großartig inszeniert. Aber letztendlich wünscht man sich doch, Channel 4 und Netflix hätten Alyssa und James ihrem Schicksal am Strand überlassen. (sg)
Ihr braucht mehr Netflix-Stoff? Wir haben ein ultimatives Ranking der besten Netflix-Serien aller Zeiten erstellt und erklären euch, was sie auszeichnet. Und: Wir haben die ultimative Übersicht, was euch im November noch Neues erwartet:
DIE BESTEN NETFLIX-SERIEN – die Top-44 im ultimativen Ranking
Alle Fotos: (c) Netflix
Susanne Gottlieb schreibt als Filmjournalistin für die Helden der Freizeit, Kleine Zeitung, NZZ, Standard, TV Media, Filmbulletin, Cineuropa und viele mehr. Sie arbeitet im Filmarchiv Austria, berichtet von diversen Filmfestivals und hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert.