Die neue Netflix-Serie Criminal erzählt in einem innovativen Format zwölf Kriminalfälle aus Deutschland, Frankreich, dem Vereinigten Königreich und Spanien. Welche Stärken und Schwächen das Krimi-Experiment hat, lest ihr in unserer Kritik.
Mit Criminal gelingt es Netflix, Kriminalserien aus einem ganz neuen Blickwinkel zu erzählen. In der ersten länderübergreifenden Show des Online-Stream-Giganten bleibt das Set immer gleich. Aber die erzählten Geschichten spielen in vier verschiedenen Europäischen Ländern mit je eigenen Ermittlern. Der Schauplatz ist einzig und allein ein Verhörraum. Dadurch vermeidet Criminal Tatorte und mühselige Tätersuche und konzentriert sich ganz auf die menschlichen Dramen, die hinter Verbrechen stecken. Das ist durchaus innovativ. In je drei Episoden pro Land wird aber auch offensichtlich, dass das Format den Zuschauer nur begrenzt am Bildschirm halten kann.
Die Helden der Freizeit haben die gerade neu erschienene Serie bereits vollständig gesichtet. Was wir vom neuesten Netflix-Release halten, lest ihr in dieser Kritik. Helden-Tipp! Hier findet ihr die 44 besten Netflix-Serien in unserem ultimativen Ranking. Und:Hier alle Neuerscheinungen im Oktober.Neu beim Streaming-Anbieter ist übrigens auch die neue Superhelden-Serie Raising Dion. Was daran sehenswert ist, lest ihr in unserem Review.
Gar nicht unähnlich der Kultserie Black Mirror, die für uns eine der besten Netflix-Serien überhaupt ist, erzählt Criminal episodisch zwölf fiktive Kriminalfälle. Das Besondere dabei: Es gibt vier separate Ermittlerteams, die in verschiedenen Ländern und komplett unabhängig voneinander agieren. Jede Folge verhören sie einen anderen Tatverdächtigen. Man sieht sie einzig und allein im Verhörzimmer sitzend. Im Trailer könnt ihr euch einen Eindruck verschaffen:
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Die Verbrechen fallen dabei ganz unterschiedlich aus. Aber im Lauf der Ermittlungen kann man stets mit einer unerwarteten Wendung im Fall rechnen. Das erfrischende Konzept stammt von den Regisseuren George Kay (Killing Eve) und Jim Field Smith (The Wrong Mans). Die filmische und inhaltliche Umsetzung haben sie aber den Teams des jeweiligen Landes überlassen.
Eingepfercht im kleinen Verhörsaal liefern sich die Ermittler und die Tatverdächtigen psychologische Duelle. Dabei schrecken die Verhörenden in manchen Fällen auch nicht vor grenzwertigen Methoden zurück, um die Wahrheit aus ihren Gefangenen herauszukitzeln.
Wer sich bei Krimi-Serien auf Blut, wilde Verfolgungsjagden und charismatische Detektive à la Sherlock Holmes oder die beiden Special Agents aus Mindhunter freut, der muss sich erst einmal an das Format von Criminal gewöhnen. Die Spannung entsteht hier allein durch die Wortgefechte der Ermittler mit den Verhörten. Denn eingesperrt im engen Raum mit unnachgiebigen Verhörenden, verwickeln sich die Verdächtigen früher oder später in Widersprüche. Dabei offenbaren sie unfreiwillig tiefe Einblicke in ihre Psyche. Nach und nach brechen die teils unethischen Verhörtechniken ihren Willen.
Einmal erschleichen sich die Ermittler das Vertrauen der Kriminellen, dann steigern sie den psychischen Druck bis ins Unerträgliche. Beim Zuschauer ist deswegen das Mitleid mit den Verdächtigen oft größer als die Sympathie für die Polizisten. Loben muss man deswegen das tiefe Verständnis für menschliche Taten, das die Autoren der Serie an den Tag legen. Für jedes Land gibt es übrigens andere Regisseure und Drehbuchschreiber – nur das Set bleibt gleich.
Dennoch fühlt sich das Projekt Criminal wie ein stimmiges Ganzes an. Sein Fokus liegt vor allem darin nuanciert zu beleuchten und zu hinterfragen, welche Motive und Emotionen Menschen zu Straftaten animieren. Das gelingt ihm unglaublich gut. Denn die Charaktere der Verdächtigen haben Tiefgang.
Doch ohne talentierte Schauspieler wie David Tennant (Broadchurch, Doctor Who) der in einer britischen Folge den Verdächtigen Edgar spielt, würde ein großer Teil der Faszination von Criminal fehlen. Überzeugend spielt er einen Arzt mittleren Alters, der verdächtigt wird, seine Stieftochter ermordet zu haben. Gibt er anfangs noch den fürsorglichen Stiefvater, so mehren sich im Verlauf des unerbittlichen Verhörs die Ungereimtheiten in den Aussagen des Doktors.
Allerdings gibt es auch in den Episoden der anderen Länder viele starke Schauspieler. Im spanischen Criminal sticht etwa Inma Cuesta heraus. Sie spielt eine junge, psychisch Erkrankte, die in absoluter Perspektivlosigkeit aufgewachsen ist. Eigentlich wird sie nur von der Polizei einberufen, um eine Zeugenaussage zum Ertrinken ihrer autistischen Schwester zu machen. Doch im Verlauf der Folge gibt sie nach und nach die verstörenden Geheimnisse ihrer Familie Preis.
Doch so detailliert die Verdächtigten in Criminal charakterisiert werden, so nachlässig und fast schon lieblos geht man mit den Hintergrunddetails der Ermittler um. Es scheint so, als ob man ihnen nur widerwillig eigene Geschichten geschrieben hat. Über die je drei Episoden der verschiedenen Länder ergibt sich dafür ohnehin wenig Raum. Die Versuche, etwa über dünne Liebesdramen zwischen den Beamten, scheitern kläglich. Hier eröffnet sich die große Schwäche von Criminal.
Obwohl die Verhörtechniken der Ermittler faszinierend sind, wirken sie nur wie hohle Puppen, die den Charakteren der Verdächtigen zu Tiefe verhelfen sollen.
Schade. Denn zum Cast der Polizeibeamten gehören talentierte Schauspieler. In den deutschen Episoden etwa Florence Kasumba aus Black Panther und Avengers: Infinity War. Hier spricht sie kaum und steht meistens nur im Hintergrund des Observationszimmers. Das selbe gilt für Sylvester Groth, der vielen aus der erfolgreichen deutschen Netflix-Serie Dark bekannt ist.
Doch vor allem bei den Rollen der Verdächtigen sind viele fähige Schauspieler vertreten. Etwa die deutsche Fernsehgröße Peter Kurth, die seit Jahren immer wieder im Tatort der ARD auftritt. Oder die britische Schauspielerin Hayley Atwell, die manchen aus der amerikanischen Fernsehserie Marvel’s Agent Carter ein Begriff ist und hier in ihrer Rolle eines Giftmordes verdächtigt wird.
Criminal ist ein mutiges Experiment, das die Grenzen des geläufigen Krimi-Genres austestet. Es gibt keine Action, keine Pistolen und auch keine Obduktionen. Alles konzentriert sich auf einen Raum: Das Verhörzimmer. Das funktioniert über weite Strecken gut. Die Spannung speist sich allein aus dem mentalen Kampf, den Ermittler und Verdächtige miteinander austragen.
Konsumiert man zu viele Folgen auf einmal, wird die Formel aber schnell repetitiv und eintönig. Da hilft es nicht, dass die Polizeibeamten nur in der Sphäre ihres Verhörzimmers zu existieren scheinen. Eine Welt außerhalb des Kommissariats gibt es nicht. Und genau deswegen kennt die Spannung von Criminal Grenzen. Im Endeffekt eine packende Serie, die aber in ihrer Formelhaftigkeit und ihrem Minimalismus nicht für jeden geeignet sein dürfte.(sn)
Du suchst nach sehenswerten Netflix-Serien? Hier findest du alle unsere Kritiken auf einem Blick:
After Life (Staffel 1)
Better Call Saul (Erste 33 Folgen)
Black Mirror (Staffel 5)
Black Summer (Staffel 1)
BoJack Horseman (Staffel 5)
Dark (Staffel 2)
Dark Crystal: Age of Resistance (Staffel 1)
Der Pate von Bombay (Staffel 1)
Derry Girls (Staffel 1 und 2)
Disenchantment (Staffel 1)
Dogs of Berlin (Staffel 1)
Élite (Staffel 1)
Glow (Staffel 1 und 2)
Happy! (Staffel 1)
Haus des Geldes (Staffel/Teil 3)
Jessica Jones (Staffel 2)
Jessica Jones (Staffel 3)
Kominsky Method (Staffel 1)
Maniac (Staffel 1)
Orange is the new Black (Staffel 6)
Orange is the new Black (Staffel 7)
Sex Education (Staffel 1)
Stranger Things (Staffel 1 und 2)
Stranger Things (Staffel 3)
The Innocents (Staffel 1)
The Spy (Staffel 1)
Turn up Charlie (Staffel 1)
Umbrella Academy (Staffel 1)
Alle Bilder: © Jose Haro
Die Journalistin ist bei Videospiel-Tests und Wien Guides voll in ihrem Element. Seit 2021 verstärkt sie die Redaktion des KURIER.