Greedfall läutet den Spiele-Herbst ein – ist das Action-RPG spielenswert? Jein. Erfahrt in unserem Test, warum es viel Potenzial auf der Strecke lässt.
10. September 2019: Der Sommer ist vorbei. Während draußen das erste Laub knistert, surren drinnen schon die Konsolen. Umso feiner, dass uns da ein brandneues Game zum Test ins Haus flattert: Greedfall.
Wir befinden uns im Zeitalter der Entdeckungen. Unsere Heimat wird heimgesucht von einer tückischen Krankheit, bekannt als Malichor, die nicht aufzuhalten ist. Ein neu entdecktes Eiland, Teer Fradee, mehrere Wochen Schiffsreise entfernt, verspricht Linderung oder gar ein Heilmittel. Greedfall, das neue Action-RPG von Spiders (Bound by Flame, Technomancer), schickt uns in ein fiktives 17. Jahrhundert. Auf eine Insel, die vor Magie nur so trieft, wo Fanatismus und Verrat wüten.
Serene, eine Stadt geplagt von einer unheilbaren Krankheit. Hier sind wir aufgewachsen. Wir ist in unserem Fall, nach der umfangreichen Charaktererstellung, eine adrette Dame mit einer storyrelevanten Riesenbletschn (Leberfleck) auf der Wange. Beim Schwertmeister üben wir das Zuschlagen und Parieren. Was gleich auffällt, ist die schwammige, indirekte Steuerung. Wie schon im letzten Spiel des Entwicklers (Technomancer, 2016) hüpft man herum, von Gegner zu Gegner, fühlt sich aber nie vollends in Kontrolle. Und das Sprinten sieht total dämlich aus.
Unser Cousin Constantin wird von unserer mächtigen Familie als Gouverneur einer neuen Insel eingesetzt. Wir sollen ihn begleiten, beschützen und die Interessen der Merchant Congregation vertreten. Das ist eine von sechs Fraktionen, die in Greedfall um Macht buhlt.
Nach einem gut zweistündigen Prolog in Serene, wollen wir endlich die Segel nach Teer Fradee, setzen. Nur um rüde vom ersten Bosskampf unterbrochen zu werden. Bis jetzt hatten wir es mit Assassinen und Wegelagerern zu tun – die mystische Bestie, die uns jetzt gegenübersteht, hat ein ganz anderes Kaliber.
Groß wie ein Einfamilienhaus, mit Pranken wie ein Baumstamm werden wir schnell auf den Boden der Tatsachen geholt. Das einigermaßen faire (und regelmäßige) automatische Speichersystem erlaubt uns mehrere Versuche. Invicibility frames (ein Begriff aus Dark Souls, während der Ausweich-Animation ist man unverwundbar) retten uns unzählige Male das Leben. Mit unserer Pistole schießen wir dem Monster zuerst seine Rüstung ab, mit schnell aufgeladenen Spezialattacken dezimieren wir seinen Lebensbalken. Ein paar Heiltränke ärmer liegt das Viech im Staub und wir segeln endlich in Richtung der sagenumwobenen Insel.
New Serene wurde vor ein paar Jahren gegründet. Der Außenposten der Merchant Congregation ist das Tor zur neuen Welt. Dort lernen wir neue Partymitglieder kennen, wie Kapitän Vasco, Mitglied der Nauts (einer Fraktion aus talentierten Seglern). Insgesamt gibt es fünf Companions, alle mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Hintergrundgeschichten. Im Stile eines Mass Effect kommen wir ihnen mit persönlichen Quests etwas näher, auch Techtelmechtel sind nicht ausgeschlossen.
In der Stadt wirken die schlauchartigen Levels ja noch halbwegs natürlich. Auf Teer Fradee engen sie die Gebiete aber befremdlich ein. Erschwerend hinzu kommt die Zelda-eske Absperrung mancher Passagen, die erst später im Spiel, mit neuen Fähigkeiten, zugänglich werden.
Apropos Fähigkeiten, Greedfall ist im Kern ein Rollenspiel. Jedes Level steigert man Attribute, erhöht sein Charisma, seine Stärke, Beweglichkeit und und und. Leider sind ein Großteil der freigeschalteten Entwicklungen nur minimale Verbesserungen wie 10 % mehr Schaden oder überhaupt nur die Befähigung bestimmte Gegenstände, wie etwa Bomben oder Fallen, zu verwenden.
Klassisch RPG-mäßig klagen die Einwohner der Stadt uns möglichst wortreich (und teilweise sehr langsam und fad) ihr Leid. Einige haben auch Missionen für uns, die wir natürlich gerne erledigen. Gottseidank gibt es nur ganz vereinzelte „töte X Tiere“, „bring mir X Ressourcen“ Aufträge. Der Großteil der Quests ist handgeschnitzt und lässt sich auf unterschiedliche Arten angehen. Man könnte in ein Lagerhaus einbrechen, oder sich einfach als Mitglied der entsprechenden Fraktion verkleiden und hineinspazieren. Oder an einer, zugegeben vorgezeichneten, Stelle eine Bombe legen und ein Loch in die Seite vom Lagerhaus sprengen. Das wirkt zwar auf Anhieb ganz nett, ist aber viel zu offensichtlich formelhaft. Praktisch ist hingegen das angebotene Fast-Travel zum Questgeber, nach Abschluss einer Mission.
Draußen in der kunterbunten Inselwelt streifen große Tierrudel umher. Naja, leider stehen sie eher herum und warten darauf verprügelt zu werden. Zahlenmäßig unterlegen muss man sich vielen Gegnergruppen vorsichtig nähern, um vielleicht noch unentdeckt eine verheerende Stealth-Attacke zu landen. Eindeutig inspiriert von Dragon Age: Inquisition gestalten sich die Kämpfe frenetisch, bestehen viel aus Zuschlagen und Parieren – und haben eine Pause-Funktion. Im Gegensatz zur Inspiration kann man seine Gruppe jedoch nicht steuern und ihnen auch keine Befehle geben. Man kann lediglich seiner eigenen Figur sagen jetzt diese Attacke zu machen, diesen Zauber zu wirken oder diesen Trank zu nehmen. Aber wozu hat man dann Hotkeys? Ein sehr fragwürdiges System, es wirkt fast als ob die Entwickler keine Zeit mehr hatten ein Party-System zu implementieren.
Der Star der Show ist eindeutig das Setting. Greedfall setzt auf ein recht unverbrauchtes Zeitalter, auf eine Welt aus Dreieckshüten, verbitterten Seeleuten, geldhungrigen Söldnern und den erbitterten Kampf zwischen Fraktionen. Teilweise am Schlachtfeld, teilweise am Verhandlungstisch. Jedes Partymitglied gewährt neue Einblicke in seine Fraktion und zieht einen tiefer ins Geschehen.
Siora, zum Beispiel, ist eine Ureinwohnerin von Teer Fradee. Nach dem Tod ihrer Mutter hilft sie uns die indigene Bevölkerung besser zu verstehen. Eine Fraktion, die natürlich, ganz Klischee, nobel und stolz ist, und natürlich, auch ganz Klischee, von den Neuankömmlingen drangsaliert, verdrängt und auch konvertiert wird (zumindest versuchen das die religiösen Fanatiker aus Theleme).
Nicht besonders erwähnenswert ist die Optik. Die Grafik ist funktional, jedoch ohne eigenen Stil. Teer Fradee ist bunt, dicht bepflanzte Wälder und zwischen Sümpfen, Stränden und Städten sogar durchaus abwechslungsreich. Leider ist die Performance, zumal auf einer PS4 Pro, eher Mittelmaß. Nach mehr als „cinematischen“ 30 Frames sieht es nicht aus, bei aufwändigen Animationen im Kampf aber oft auch weniger.
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Viele Mängel stechen bei Greedfall auf Anhieb ins Auge. So viele ungeschliffene Kanten, so viel ungenütztes Potenzial. Das Kampfsystem könnte knackiger, direkter und abwechslungsreicher sein, die Story origineller, die Sprecher besser, die Grafik schöner. Spaß macht Greedfall irgendwie trotzdem. Die Welt ist faszinierend und man möchte nach 20 Stunden Spielzeit immer noch herausfinden, was es mit dem Leberfleck auf der Wange des Helden/der Heldin auf sich hat. Die kleinen Genre-Verbesserungen gehören ebenfalls gewürdigt: Zum Beispiel ein Laden, der in Ladebildschirmen zwischen Gebieten zum Stöbern und Verkaufen einlädt oder auch die Anzeige aller aktiven Quests beim Gebietswechsel und das mögliche Fast-Travel beim Missionsabschluss.
So richtig die Flaute an guten Neuerscheinungen beenden, kann Greedfall leider nicht. Aber es gibt Hoffnung auf Besserung:
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Greedfall ist seit 10. September für 50 Euro im Handel erhältlich – für PC, PS4 und Xbox One.
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Screenshots (c) heldenderfreizeit.com
Der Grafiker und Art Direktor (Helden der Freizeit, Styria Verlag) aus Wien ist ein absoluter Game- und Film-Kenner. Das zeigt das in seinen Tests und Bestenlisten.