Jordan Peele ist zurück. Nach seinem Debüt und Überraschungserfolg Get Out dringt er mit Wir noch weiter in das Horrorgenre vor und präsentiert einen Film, der von düsteren Handlungssträngen, Symbolismus und Gesellschaftskritik nur so strotzt. Warum ihr ihn auf keinen Fall verpassen solltet, lest ihr hier.
Übrigens – unser Review zu Peele’s Alien-Horrorfilm NOPE gibt es hier
21. März 2019: Jordan Peele schließt nach seinem starken Erstlingswerk da an, wo er aufgehört hat. Der US-Regisseur beweist abermals, dass er ein Gespür dafür hat, den Höhen und Tiefen unserer gesellschaftlicher Ko-Existenz mit einem Funken Humor zu begegnen. In WIR packt er aber auch kompromisslose Meta-Kommentare und düstere Handlungsstränge. Heute startet der Film bei uns im Kino.
Ähnlich wie in Get Out, wo er sich mit verstecktem Rassismus und der Scheinheiligkeit der liberalen Weltordnung in den USA auseinandersetzt, packt Peele auch in Wir viele Denkanstöße. Das Auftauchen einer aggressiven, vom Leben gezeichneten, Gruppe von Doppelgängern im Haus einer Mittelklasse Familie bietet den Nährboden für vielerlei Interpretationen und Lesearten. Ein Film, der dazu einlädt, ihn mehr als einmal zu schauen, um jedes Mal neue Sichtweisen und Details zu entdecken.
In unserer spoilerfreien Kritik erfahrt ihr, was in dem Film passiert. Und: Warum ihr ihn unbedingt sehen solltet. Übrigens liebe Horrorfans: Hier verlosen wir drei Megapakete zu Friedhof der Kuscheltiere, der am 4. April startet.
Alles beginnt 1986. Die junge Adelaide (Madison Curry) verbringt am Pier in Santa Cruz einen lustigen Abend zwischen den Schaubuden. Als ihre Eltern kurz nicht aufpassen, verschwindet sie zum Strand. Dort fällt ihr ein verlassenes Spiegelkabinett auf. Als sie es betritt, muss sie zu ihrem Horror feststellen, dass sie hier nicht nur ihrem Spiegelbild ins Auge blickt, sondern auch ihrem eigenen Doppelgänger. Die Geschichte hüpft daraufhin in die Gegenwart. Adelaide (Lupita Nyong’o) ist nun erwachsen, mit Gabe (Winston Duke) verheiratet und mit ihm und ihren beiden Kindern Zora (Shahadi Wright Joseph) und Jason (Evan Alex) auf den Weg ins Feriendomizil. Das liegt nicht unweit des Santa Cruz Piers und Adelaide wehrt sich zunächst voller Angst, mit ihrer Familie an den Strand zu fahren um die befreundete Tyler Familie (Elisabeth Moss und Tim Heidecker) zu treffen.
Gabe kann sie schließlich überzeugen. Doch etwas Merkwürdiges geht am Strand vor. Verschiedene komische Zufälle häufen sich, wie etwa der seltsame Obdachlose, den Adelaide schon 1986 gesehen hatte. Er steht mit ausgestreckten Armen im Sand und von seinen Fingern tropft Blut . Als die Familie abends zu ihrer Unterkunft zurückkehrt will Adelaide sofort abreisen. Aber es ist bereits zu spät. Eine Familie steht in der Auffahrt ihres Hauses. Vier Mitglieder sind es. Jedes einzelne eine Kopie von Adelaides Familie. Ihre Doppelgängerin hat sie gefunden. Und wie es aussieht, wird es diesmal ein Kampf auf Leben und Tod.
Fragen drängen sich auf. Wer sind die Doppelgänger? Woher kommen sie? Was wollen sie? Der Film mag zwar einige gradlinige Antworten bieten, aber das Wunderbare ist, damit ist noch längst nicht alles erklärt. Peele bietet ein vielschichtiges Werk, das auf mehrere Arten interpretiert werden kann. Die Zusammenstöße zwischen den in roten Overalls und mit riesigen Scheren ausgestatteten Doppelgängern mögen zwar in erster Linie brutal und blutig sein. In den ruhigeren Momenten bieten sie aber ein Kaleidoskop an Emotionen und Reaktionen, die dem Film ermöglichen, tiefer zu graben als die Prämisse zunächst vermuten lässt.
Peele wäre nicht Peele, wenn er nicht auch auf Missstände in der modernen amerikanischen Gesellschaft hinweisen würde. Adelaides Familie wie auch die Tylers entsprechen dem klassischen Durchschnittamerikaner. Haus, Auto, College-Abschluss, Nachwuchs. Die Doppelgänger dagegen scheinen aus einem Leben aus Mangel, Elend und nicht gebotenen Chancen zu kommen. „Wir sind Amerikaner“, krächzt Adelaides Doppelgängerin Red, auf die Frage, wer sie sind. Die Dualität eines Menschen, dessen zwei Lebensrealitäten so widersprüchlich sind, könnte nicht pointierter sein.
Peele verpackt sein Doppelgänger Motiv auch bildlich in den vielen Spiegeln, aus denen die Figuren immer mit fragwürdigem Blick herausstarren, so als wären sie selber nicht sicher, wer sie eigentlich sind. Wenn es nicht das eigene Spiegelbild ist, dann ist es auch schon mal der Doppelgänger, der die Gestik und Mimik seines Gegenübers nachahmt. Nur sind die Bewegungen bei ihm verstörend, hektisch oder ungelenk. Das Ganze kumuliert in einer wunderbaren Kampfszene, die wie in einem Ballettstück aus musikalisch perfekt getimten Schritten und Pirouetten, einem Vor und Zurück seiner Figuren, besteht.
Die Konfrontationen der Doppelgänger lebt vor allem von den Schauspielern, allen voran Nyong’o und Duke. Nyong’o versteht es hervorragend zwischen der traumatisierten, aber liebevollen, Adelaide und der gewieften, nach Blut gierenden Red zu alternieren. Der großäugige Blick, das Fletschen der Zähne und das bestimmte Auftreten verleihen Red etwas Übernatürliches. Sie habe Gott gesehen und ihre Mission angenommen, erklärt sie Adelaide. Religion hat natürlich auch seinen wohlverdienten Platz in der Demontage einer Gesellschaft. Duke sorgt als knuddeliger, massiger Familienvater Gabe für einige wohlverdiente Lacher. Sein Abraham dagegen wirkt mit seinen gutturalen Lauten und der plötzlich beängstigenden körperlichen Stärke furchteinflößend.
Es ist fast unmöglich auf all die wunderbaren Ebenen und Wendungen in Wir einzugehen, ohne den Film allzu sehr zu spoilern. Fakt ist, Peele legt seinen Finger wieder auf eine weitere Wunde des amerikanischen Bürgertums, spricht Unterdrückung und die dunkle Seite des Menschen an und bietet so eine breite Fläche an Projektionen und Interpretationen. Ein Film, den man analytisch noch oft auseinandernehmen wird.
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Alle Fotos: © Universal Pictures
Susanne Gottlieb schreibt als Filmjournalistin für die Helden der Freizeit, Kleine Zeitung, NZZ, Standard, TV Media, Filmbulletin, Cineuropa und viele mehr. Sie arbeitet im Filmarchiv Austria, berichtet von diversen Filmfestivals und hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert.