Adrenalin pur. Durch die engen Straßenschluchten von New York, quer durch Manhattan schwingen. Im Vorbeifliegen Bösewichte verprügeln, Rucksäcke finden und Tauben fangen. Marvel’s Spider-Man im Test.
von Christoph Geretschlaeger
10. September 2018: Einmal sich wie ein echter Superheld fühlen. Ein Leben wie im Comicbuch. Das verspricht das neue Spiel von Insomniac Games, den Machern von Ratchet & Clank und Sunset Overdrive. Nicht nur die großartige Anfangssequenz erfüllt dieses Versprechen bis ins letzte Detail.
Spider-Man, auch bekannt als Peter Parker, macht Jagd auf Ober-Bösewicht Wilson Fisk (in der kriminellen Unterwelt und unter den Daredevil-Sehern als Kingpin berühmt berüchtigt). Wir kämpfen uns, natürlich im Einverständnis mit Polizei-Chief Watanabe, durch Fisks Hochhaus bis es zum Showdown im Penthouse kommt. Mit einem zeitgerechten Knopfdruck sagen wir Peter, dass er doch den Raketen ausweichen soll, mit den beiden Schultertasten zieht er Objekte zu sich und schleudert sie gen Bösewicht. Nach der ersten Stunde kocht das Blut mit Adrenalin und die Glücksgefühle werden im Sekundentakt ausgeschüttet.
Zur Beruhigung lernen wir danach den Mann hinter der Spider-Maske genauer kennen. Spider-Man erzählt keine Origin-Geschichte, keine Mär von radioaktiven Bissen und den ersten Begegnungen mit Kingpin und dem Green Goblin. Dieser Peter Parker hat schon einiges gesehen, nur Geld für die Miete hat er immer noch nicht. Die Story konzentriert sich auf Peters Arbeit mit Doc Ock und einem mysteriösen Fiesling der Menschen korrumpiert und eine Armee in Dämonen-Masken befehligt.
Doch bevor wir die nächste Hauptmission angehen, schauen wir uns in Manhattan um. Das machen wir natürlich nicht mit der U-Bahn (die ist zum Fast-Traveln) sondern an unseren Spinnenfäden. Wolkenkratzer bieten ideale Ankerpunkte für unsere Netze, als wir uns durch enge Gassen schwingen. Jeder Schwung baut etwas mehr Momentum auf und bald flitzen wir im Eiltempo vom Times Square zur Upper East Side. Zu Dachkanten können wir uns geschmeidig hinziehen, um uns dann davon förmlich wegzukatapultieren. Irrsinnig schnell kommt man, trotz der anfangs gewöhnungsbedürftigen Steuerung, in einen Flow. Nach einigen Stunden schwingt man besser als Tarzan, und die coolere Jane hat man auch.
Mary Jane Watson, Peter Parkers große Liebe, darf natürlich nicht fehlen. Zu viel möchte ich nicht verraten, aber zwischendurch kann man die Rothaarige auf Spurensuche sogar selbst steuern. Neben MJ sind auch Aunt May, Doctor Octavius und Norman Osborn, wie üblich, mit von der Partie. Letzterer ist mittlerweile Bürgermeister von New York, wirkt jedoch nicht ganz sauber.
Apropos nicht ganz sauber: In ganz Manhattan tummeln sich allerlei Schurken und Nichtsnutze, die verprügelt werden müssen. Ähnlich dem Kampfsystem der Batman-Spiele turnt Spidey durch Gegnergruppen, netzt die Fieslinge ein oder schwingt sich schnell aus dem Getümmel. Weniger Schlagkraft als der dunkle Rächer aber mit Beweglichkeit und Momentum auf seiner Seite, ist Spider-Man schwer aufzuhalten. Vorausgesetzt man lässt sich nicht von Raketen oder Scharfschützen treffen. Immer in Bewegung bleiben, immer einen flotten Spruch auf den Lippen. So muss Spider-Man.
Mit Minigames freigeschaltene Türme decken einzelne Stadtteile auf und weisen auf die zahlreichen Collectibles hin. Rucksäcke, Raubüberfälle und Sehenswürdigkeiten. Die Kamera immer dabei, fotografieren wir halb New York für Tokens, von der Brooklyn Bridge übers Chrysler Building bis zur Wall Street. Liebevoll ist die Stadt dem Original nachempfunden, dichter Verkehr und Wolkenkratzer sowie kleine Überraschungen an jeder Straßenecke.
Sobald wir ein paar Level und genug Collectibles eingesammelt haben, können wir an unserem Anzug feilen. Der neue Ausgangsanzug mit weißen Spinnen-Applikationen sieht aber schon verdammt schneidig aus. Mit den Levels kann man sich weitere Outfits kaufen – aus den Filmen mit Tobey Maguire, aus den aktuellen Marvel-Blockbustern oder aus den ersten Comics. Jeder Anzug hat eine Spezialfähigkeit, wie die Fäuste mit Elektrizität verstärken oder kurzzeitig unverwundbar gegen Kleinkalibermunition werden. Wer aber lieber im alten Outfit bleiben will, kann auch nur die Spezialfähigkeit übernehmen – eine sehr feine Sache. Ich kann mich nämlich gar nicht von meinem feschen dunkelblauen Spider-Suit trennen.
In den späteren Leveln brauchen neue Anzüge spezielle Ressourcen, Challenge Tokens, die erst nach knapp der Hälfte der Hauptstory freigeschalten werden, wie auch einzelne Gadgets die den Kampf-Alltag leichter machen. Es bietet sich daher an, zuerst in die Story einzutauchen, bevor man alle Stadtteile von Collectibles und Nebenmissionen befreit. Mit Fortdauer des Spiels tauchen aber sowieso immer neue Herausforderungen auf, so liegen Bezirke nie brach, immer gibt es etwas zu tun.
Nach jeder Mission empfiehlt sich mit Spider-Man etwas Zeit die Stadt zu erkunden. Bewusst gibt einem das Spiel auch Zeit sich umzuschauen. Am Telefon machen wir uns ein Treffen mit Mary Jane aus, das ist aber erst am Abend. Bis dahin haben wir Zeit die Tauben des obdachlosen Howards einzufangen oder der Diebin Black Cat nachzustellen.
Beim Spielen vergeht die Zeit unheimlich schnell. Mit einem Grinser im Gesicht von Gebäude zu Gebäude zu schwingen wird auch nach 20 Stunden nicht fad. Die Uhr im Spiel dagegen dreht sich nur durch Missionen weiter. Immer wieder wechseln die Bedingungen. Die Grafikengine kann ihre Muskeln spielen lassen und das wunderschöne digitale Manhattan bei Tag, Nacht oder Regen in vollem Glanz zeigen. Spider-Man versucht bewusst dem Spieler keinen Stress zu machen. Zeitlimits von Nebenmissionen sind gnädig und fehlgeschlagene Raubüberfälle (bzw. das Aufhalten selbiger) tauchen schnell wieder auf.
Eine Ausnahme bilden die brutal schweren Challenges (zumindest für die härteste der drei Stufen, für die es die meisten Tokens gibt). Im Zeitlimit Bösewichte vermöbeln, Drohnen nachjagen oder Bomben entschärfen geht schnell auf die Daumen bzw. auf die Geduld.
Spider-Man ist ein grafischer Leckerbissen. Auf einem 4k-Fernseher, befeuert von der PS4 Pro, hab‘ ich noch nie so knackige Action erlebt. Kurze Ladezeiten, keine Ruckler und ein riesiges Manhattan zum Erkunden. Herz was willst du mehr?
Spider-Man ist ein grandioses Spiel. Mit wahnsinnig viel Liebe von oben bis unten durchgestylt. Alles wirkt aus einem Guss. Die Reverenz den Comics und den Filmen gegenüber, aber dennoch bemüht seine eigene Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die fesselnd ist und mit rund 20 Stunden auch eine gute Länge hat. Will man alle Collectibles einsammeln kann man nochmal die Hälfte dazurechnen. Kämpfe sind dynamisch und abwechslungsreich. Immer wieder kommen neue Gadgets dazu, die Bösewichte schneller und effizienter außer Gefecht setzen können, umbringen tut ein echter Spider-Man niemanden. Ich kann’s kaum erwarten die Tastatur wieder beiseite zu legen und mich weiter quer durch Manhattan zu schwingen. Absolute Helden-Empfehlung! Und ich muss jetzt noch ein paar Rucksäcke einsammeln, 50 von 55 hab‘ ich schon.
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Alle Bilder (c): Screenshots, Insomniac Games
Der Grafiker und Art Direktor (Helden der Freizeit, Styria Verlag) aus Wien ist ein absoluter Game- und Film-Kenner. Das zeigt das in seinen Tests und Bestenlisten.