Colman Domingo spielt im Hochsicherheitsgefängnis Sing Sing Theater – und sucht dabei in Konfliktsituationen nach sich und seiner Zukunft. Was den von Kritikern gefeierten Film so sehenswert macht.
von Susanne Gottlieb, 3. 4. 2025
Theater im Häfn – Das Programm Rehabilitation Through the Arts (RTA), das Tanz-, Theater-, Musik- und Schreibworkshops in Gefängnisse bringt, gibt es derzeit in acht Einrichtungen im Bundesstaat New York. Die Idee entstand 1996 im Gefängnis Sing Sing, nachdem einige der Insassen Hilfe beim Schreiben und Produzieren eines Theaterstücks suchten, das sie für ihre inhaftierten Mitgefangenen aufführen wollten. Laut der Website des Programms kehren auch nur 3 Prozent der Teilnehmer ins Gefängnis zurück. Zum Vergleich: Der nationale Durchschnitt liegt bei weit über 60 Prozent!
Greg Kwedars Film basiert lose auf dem Esquire-Artikel The Sing Sing Follies von John H. Richardson von 2005. Für Colman Domingo regnete es immerhin eine Oscarnominierung, und auch sonst begeisterte der Film bereits Publikum und Kritiker. Jetzt ist er endlich auch in Österreichs Kinos zu sehen. Warum ihr ihn nicht verpassen solltet, das lest ihr hier.
Häftling John „Divine G“ Whitfield (Colman Domingo) sitzt im Sing-Sing-Gefängnis 25 Jahre für einen Mord ein, den er nicht begangen hat. Der Tristesse des Alltags entflieht er, in dem er an dem Theaterprogramm Rehabilitation Through the Arts teilnimmt. Darin hat der Hobby-Dramatiker und Autor eine Bestimmung und Sinn gefunden. Die andere Hälfte seiner Zeit verbringt er mit dem Studium von Straftaten und der Suche nach Lösungen, die seine vorzeitige Entlassung bewirken könnten. Auf der Suche nach neuen Mitgliedern rekrutieren er und sein Kumpel Mike Mike (Sean San Jose) den ehemaligen Dealer Clarence „Divine Eye“ Maclin (spielt sich selbst). Zunächst herrscht noch Skepsis unter den anderen Häftlingen, immer gilt Divine Eye als wenig umgänglich.
Doch es sind nicht seine Kollegen, mit denen dieser letztendlich ein Problem hat, sondern Divine G selbst. Statt eines weiteren dramatischen Stofes, den Divine G selbst geschrieben hat, auf die Bühne zu bringen, schlägt er zur Begeisterung der anderen Insassen eine Komödie vor. Regisseur und Programmleiter Brent Buell (Paul Raci) zaubert daraufhin das Stück Breakin‘ the Mummy’s Code, eine Zeitreise-Farce, raue, zeitreisende Musical-Revue mit Piraten, Gladiatoren, Freddy Krueger und Hamlet aus dem Hut. Letzterer ist die einzige dramatische Rolle und jene, die Divine G eigentlich für sich selbst will. Umso offensichtlicher werden die Reibereien zwischen diesem ungleichen Paar, als auch Divine Eye für Hamlet vorspricht und die Rolle bekommt.
Natürlich passiert dazwischen noch allerhand anderes, aber im Zentrum steht stets die komplexe Beziehung zwischen Whitfield und Maclin. Ersterer, ein ernsthafter und Theater-begeisterter Teilnehmer des RTA-Programms, der sich aufrecht und ernsthaft präsentiert. So sehr, dass man sich manchmal fragt, ob es ihm wirklich um die Gemeinschaft geht, oder er nur ein Publikum für seine eigenen Ansprüche sucht. Zum anderen ist da der stets düstere, auf Defensive getrimmte Maclin. Doch so sehr er auch auf Abstand geht, er hat eine Anziehungskraft, die ihn auf der Bühne zum Star machen könnte.
Die Sensibilität, die Regisseur Greg Kwedar in die Figuren einbringt, ergibt sich auch aus dem Drehbuch, das er gemeinsam mit Clint Bentley geschrieben hat. Dieser war lang ebenfalls als RTA-Ausbilder tätig. Doch auch der echte Whitfield, Maclin und die restlichen RTA-Absolventen, die in dem Film als Hintergrundfiguren zu sehen sind, haben einen Anteil an dem Film. Die Sorgfalt und den Respekt, den das Buch und die externen Darsteller für das Programm und die Musical-Revue Breakin’ the Mummy’s Code haben, spürt man.
Dabei verwischt der Film oft sehr bewusst die Grenzen zwischen Drama und Dokumentarfilm. Beispielsweise gibt es Szenen, in denen die RTA-Absolventen Improvisationsworkshops abhalten. Sie improvisieren hier tatsächlich. Dabei verhaftet sich der Film auch zu oft in einer kreativen Nabelschau. Er ist nicht neugierig, die Botschaft nicht pathetisch. Vielmehr erlaubt Kwedar Teil von Etwas zu werden. Einem Prozess, einer Entwicklung. Doch auch wo Grundoptimismus vorherrscht, ergibt er sich nicht den gleichen Klischees wie viele andere Vertreter des Genres.
Freunde “realistischer” Filme, Fans von Mike Leigh oder Ken Loach werden hier daher auf ihre Kosten kommen. So optimistisch die Theatergruppe ist, so eiskalt ist das Gefängnisleben. Gewalttätige Männer, die sich ständig mit Gefangenen oder den Wächtern anlegen, willkürliche Bestrafungen, Demütigung und Terrorisierung stehen an der Tagesordnung. Über allem schwebt aber die Hoffnung, hier eines Tages ausbrechen zu können. Ein Optimismus der zögerlich, aber doch prägend für den Ton des Films ist.
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Susanne Gottlieb schreibt als Filmjournalistin für die Helden der Freizeit, Kleine Zeitung, NZZ, Standard, TV Media, Filmbulletin, Cineuropa und viele mehr. Sie arbeitet im Filmarchiv Austria, berichtet von diversen Filmfestivals und hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert.