In Andreas Jungwirths neuem Roman Alle meine Namen verfolgen wir die Rückschau auf ein ganzes Leben und den mühsamen Weg von Fremdbestimmtheit über Erkenntnis und Vertrauen hin zur Selbstbestimmtheit.
von Peter Huemer, 20. 11. 2024
Unsere Protagonistin wird als Johanna kurz vor dem Beginn des zweiten Weltkrieges geboren. Als kurz vor Kriegsende ihr Vater an Krankheit verstirbt, zieht die Familie notgedrungen ins Dorf zu Onkel und Tante, wo sie nur bedingt willkommen sind. Es gibt kein Zurück in die Stadt für sie, weil die Wohnung nicht mehr existiert. Also wächst Johanna, mittlerweile Hanna genannt, auf dem Land in zeitweise bedrängend konservativer Umgebung auf.
Sobald sie alt genug ist, kehrt sie der Enge des Dorfes den Rücken und macht sich auf den Weg in die Schweiz und folgt trotz ihres Ausbruches dem Leben, wie es von einem Mädchen in den 50ern erwartet wird. Sie trifft einen Mann, Peter, und gründet eine Familie. Auf allen Stationen ihres Lebens, von der Kindheit bis ins Alter, geben ihr die Menschen ihren Namen. Johanna, Anna, Hanna, Johnny, etc. Sie musst erst lernen, dass sie ein Mitspracherecht hat. Und was, wenn die Person, an die sie dieses Recht bindet, nicht mehr da ist?
Als Kind kann man sich seinen Namen nicht aussuchen. Im Moment der Geburt wird man mit einem Symbol, einem Wort, das für einen steht, versehen. Es wird einem immer und immer wieder vorgesagt, bis man untrennbar damit verbunden ist. Von da an sollte einem dieser Name gehören und die Person, die sich um diesen Namen geformt hat, sollte bestimmen, was das Wort bezeichnet. Der Name kann einem aber, wenn man nie Kontrolle darüber ausübt, zum Balast werden.
Johanna ist ein formbarer Name. Es lassen sich unzählige Spitznamen daraus formen, die auch für sich selbst stehen können, mit dem eigentlichen verwechselt. Dabei beginnt alles so unschuldig. Ein Kind, ein kleiner Bruder, vermag das Wort “Johanna” nicht auszusprechen. Also heißt sie Anna. Auf dem Land, im fremden, feindseligen Haus gibt es schon eine Johanna, und Anna passt nicht zu den Traditionen des Hauses. Also heißt sie Hanna. Läuse zwingen sie zum Kurzhaarschnitt. Also ist sie Johnny. So geht es dahin. Ein Name ist einem schnell aufgedrückt, wenn man sich nicht wehren kann. Und wenn es zu früh geschieht, droht man ohne stabile Bezeichnung zu wanken.
Es ist ein Gewaltakt, eine fahrlässige Verletzung ihrer Person, die Johanna widerfährt. Ein ums andere Mal erheben sich die Menschen über sie, projezieren auf das Kind in Ermangelung von Empathie und tragischerweise oft ohne bösen Willen das Bild einer Laune. “Ich kann es nicht aussprechen.” “Ich will meinen Namen für mich allein.” “Du siehst ja komisch aus.” “So sagt man das bei uns.” Aus vielen Namen wird schnell das Fehlen eines echten Namens.
Wer bist du? Und so sehr man sich als eigenständig und eigenmächtig sehen möchte, braucht es eine ausgestreckte Hand, die nicht verlangt, ergriffen zu werden – ein Angebot. Ein Mann, der fragt, ob er sie so nennen darf, wie sie getauft wurde. Ob er es darf.
Alle meine Namen ist ein Buch über eine jahrzehntelange Lebensreise und liest sich wie ein Augenblick. Elegant und unaufgeregt, ohne sprachliche Akrobatik, geleitet uns Andreas Jungwirth durch Johannas Leben, durch ihre Namen, und lässt sie immer wieder auch selbst zu Wort kommen. Die Erzählpassagen erscheinen so gegenwärtig und erhalten durch die kurzen Monologe von Johanna als alter Frau, die sich mit Schmerz und Verlust konfrontiert sieht, eine große emotionale Tiefe.
Wenn man fühlt, dass dieser Mensch, der da spricht, das Mädchen am Grab des Vaters nahe der ausgebombten Wohnung ist. Wenn man ihren schelmischen Streich beim Weihnachtskonzert in ihrer Stimme wiedererkennt. Die Namen haben sie nicht als Person verändert, sie haben aber ihre Selbstwahrnehmung verdunkelt. Und wenn man sich nicht selbst erkennt, kann man sich auch nicht so leicht selbst bestimmen.
Dass es für eine solche Erzählung kaum mehr als zweihundert Seiten braucht, ist beeindruckend. Die Dichte, die dieser Roman von Kapitel zu Kapitel durchhält, erlaubt einem gemeinsam mit der trockenen Präzision der Sprache, die sich großer Worte enthält, das Gefühl, nach jedem Lebensabschnitt viel mehr als fünfzig Seiten gelesen zu haben. Ein anderes Buch müsste bei einer solchen Geschichte zum Wälzer geraten.
Alle meine Namen von Andreas Jungwirth ist ein präziser, emotional mitreißender und thematisch hochinteressanter Roman über Selbst- und Fremdbestimmtheit und die Rückeroberung der eigenen Geschichte in der Rückschau und im Moment des Aufbegehrens im Kleinen.
Alle meine Namen von Andreas Jungwirth ist im September 2024 bei Edition Atelier erschienen.
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Alle Fotos (c) Edition Atelier, Carolina Frank, heldenderfreizeit
Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.